Kleine Häuser (V): Ein elsässisches Bierlokal, 119 Rue Saint Lazare, Paris

IMG_6064.jpgIn eine Lücke zwischen zwei Häuser der Ära Haussmann zwängt sich dieses bei einem kürzlichen Paris-Aufenthalt zufällig entdeckte kleine Haus im Stil einer Schwarzwälder Kuckucksuhr. Erbaut zwischen 1894 und 1896 steht es gegenüber dem 1889 als  „Grand Hotel Terminus“ eröffneten heutigen Hilton-Hotel, das wiederum auf dem Platz vor dem Bahnhof Saint-Lazare steht. In dieser von kurzer Einkehr, An- und Abreise geprägten Gegend diente es, bevor es zum amerikanischen Spezialitätenrestaurant umgewidmet wurde, als elsässisches Bierlokal. Auf das nach dem Krieg von 1870/71 ans Deutsche Reich verlorene Elsass verweist das oben angebrachte Stadtwappen von Strasbourg/Straßburg und der auf dem Dach stolzierende Storch – der Symbolvogel des Elsass. In der Mitte hebt Gambrinus, der mythische Erfinder des Bieres, sein Bierglas.

Was lernt man aus diesem Themenlokal des späten 19. Jahrhunderts über die Typologie kleiner Häuser? Als Lückenschluss kann ein kleines Haus stilistisch aus dem Rahmen fallen, als erlaubte Regelverletzung, die in einer städtebaulich so einheitlichen Stadt wie Paris besonders ins Auge sticht. Stehen die links und rechts stehenden Häuser bei allen Unterschieden in den Details für Ordnung, Rationalität und Regelmaß, symbolisiert das kleine Haus als bewusster architektonischer Anachronismus und gebautes Zitat den kleinen Ausbruch aus dem Alltag, die (gedankliche) Flucht ins verlorene Elsass oder in das kleine Glück des Rausches bei einem Glas elsässischen Bieres (auch nach 1871 lieferten die elsässischen Brauereien vor allem nach Frankreich und stillten dort vier Fünftel des Bierbedarfs, wie das Fachblatt „Der Bierbrauer“ 1872 feststellte).

Architektur-Anachronismen (I): Das Schloss aus dem Bond-Film

Heft 2 der BUNTEN im Jahr 2018 erfreut mit einem Artikel über das sogenannte Chateau Louis XIV, ein französisches Neubau-Schloss „in der Nähe von Versailles“. Der architektonische Anachronismus schlechthin – ein Schloss, das im 21. Jahrhundert neu gebaut wurde.

Luftbild
Neues Schloss: „Chateau Louis XIV“, gebaut 2008–2011
Vaux Le Vicomte
Altes Schloss und Vorbild: Vaux-le-vicomte, gebaut 1658–1661

Was hat es nun mit diesem, lt. Wikipedia um 2008 komplett neu gebauten „Chateau Louis XIV“ auf sich? Der BUNTE-Artikel lässt bereits in der Überschrift wissen, dass es sich nunmehr um „das teuerste Haus der Welt“ handele. Neuer Eigentümer sei der saudische Kronprinz und Verteidigungsminister Mohammed Bin Salman, also jener Mann, für den die ZEIT 2015 den unnachahmlichen Titel „der junge, wilde Saudi-Prinz“ erfunden hat. Bin Salman habe, so nun wieder die BUNTE, erst kürzlich 270 Millionen Euro für das Chateau bezahlt. Was er dafür genau bekommen hat, erfährt der Leser ebenfalls: Nicht einfach nur ein Schloss, sondern auch eine „Poollandschaft“, einen „Wellnessbereich“, ein „riesiges Aquarium“, in dessen Mitte man „durch einen Tunnel“ gelangt, einen mit „kiloweise Blattgold“ verzierten Raum, einen „Weinkeller mit 3000 Flaschen“ und einen „eigenen Kinosaal mit rotem Ledersofa“. Natürlich klingt nichts davon historisch, und auch nichts wirklich interessant. Es sind die typischen langweiligen Ingredienzien einer protzigen Millionärsvilla, die hier beschrieben und in vielen bunten Bildern gezeigt werden (der Weinkeller sieht übrigens aus wie die granitenen Naziweinkeller im Ego-Shooter-Klassiker „Return to Castle Wolfenstein“, s. die beiden Bilder hier unterhalb).

Auch Rokokotreppengeländer, Halbsäulen und eine Kuppel im Stil des französischen Frühbarock führen nur bei sehr oberflächlichem Hinsehen dazu, dass man das Ganze wirklich für ein altes Schloss halten würde.

Im kurzen BUNTE-Text erfährt man die Inspirationsquelle für dieses Bauwerk. Es handele sich um „eine originalgetreue Kopie des Château de Vaux-le-Vicomte aus dem 17. Jahrhundert südöstlich von Paris“. Vergleicht man jenes Original und seine angebliche „Kopie“, so waren die Kopisten hier offenbar recht schnell zufrieden. Was eine „Kopie“ eigentlich ist, hat der Kunsthistoriker Bernhard Maaz vor einigen Jahren exakt definiert, nämlich „eine formidentische, dabei möglichst (aber nicht notwendigerweise) materialgetreue Wiedergabe eines vorhandenen, meist eines besonders geschätzten Kunstwerks“. Von „formidentisch“ kann beim neuen „Chateau Louis XIV“ nun eher nicht die Rede sein, die Übereinstimmungen mit Vaux-le-vicomte sind vage, die ganze Detaillierung des Nachbaus schlecht. So dringt die Imitation aus allen Poren, und 270 Millionen scheinen doch ein ganz kleines bisschen zu viel bezahlt für diese luxuriöse Fake-Immobilie.

Champ d'Or bei Dallas, Texas
Champ d’Or bei Dallas, Texas

Wie man nun im Wikipedia-Artikel zum echten Château de Vaux-le-Vicomte lesen kann, wurde dieses bereits vorher einmal – wenn auch noch viel weniger originalgetreu – nachgebaut, und zwar 2002 als „Champ d’Or“. Diese erste Nachschöpfung steht in Hickory Creek, einem Vorort der texanischen Millionenstadt Dallas. „Champ d’Or“ wurde als Wohnhaus für den amerikanischen Handyhändler Alan Goldfield gebaut. Derzeit steht es, für den im Vergleich zum „Chateau Louis XIV“ unwesentlich niedrigeren Preis von 17,5 Millionen US-Dollar, wieder zum Verkauf – häufiger Besitzerwechsel ist typisch für neue Schlösser.

Bond Vaux le vicomte
Moonraker (1978): James Bond landet mit dem Helikopter vor der Residenz des Bösewichts Hugo Drax

Wie kommt es nun, dass genau dieses französische Schloss gleich zweimal nachgebaut wurde? Schuld ist wohl James Bond. Es scheint, dass der Bösewicht „Hugo Drax“ aus dem Bond-Film „Moonraker“ von 1978 die Bauherrn zur ideellen und baulichen Imitation angeregt hat: Denn in einer berühmten Szene des Films wird Roger Moore mit einem Helikopter von einem kalifornischen Flughafen zu Hugo Drax gebracht, als zu seiner Überraschung plötzlich mitten in der kahlen, sonnenverbrannten Landschaft im Westen der USA ein französisches Landschloss samt grün leuchtendem Garten auftaucht: Laut der Helikopterpilotin soll es sich dabei allerdings nicht um eine Kopie, sondern um ein transloziertes (das Wort verwendet sie natürlich nicht) Original handeln: „Every stone brought from France“, wie sie Bond beim Landen vor dem Schloss erläutert. Und vor welchem Schloss? Exactement, Vaux-le-vicomte (gedreht wurde die Szene natürlich nicht in Kalifornien, sondern in Frankreich, am echten Vaux-le-vicomte).

Wie nun das neue Schloss des jungen, wilden Saudi-Prinzen zeigt, ist diese ebenso eindrucksvolle wie überdrehte Filmfantasie wieder ins Umland von Versailles gelangt, also ins Umfeld eben jenes Schlosses, das Ludwig XIV. übrigens einst als Reaktion auf das ihn sehr beeindruckende Vaux-le-vicomte so prächtig ausbauen ließ. Das Schlusswort aber soll die BUNTE haben: „Warum der Prinz das royale Refugium überhaupt besitzen wollte, ist unklar, angeblich hat er noch nie dort übernachtet.“